Wallraff war hier

 

Dokumentarfilm, 70 Min.

 

Produktion: Gemini Film & Library GmbH in Kooperation mit HMR Produktion

im Auftrag von RTL

 

Buch/Regie:

Lutz Hachmeister

Regieassistenz: 

Christopher Albrodt, Christian Wagener

Kamera:

Hajo Schomerus, Dirk Wojcik, Axel Jäger, Daniel Täger

Redaktion:

Jan Rasmus, Christian Schürmann (RTL)

Schnitt:

Guido Krajewski

Ton:

Stavros Charitidis

Sprecher:

Produzent:

Frank Arnold

Gerhard Schmidt

 

Erstausstrahlung: 9. Oktober 2017, 22.15 Uhr auf RTL

 

 

 

Er  ist, mit ziemlichem Abstand, der bekannteste deutsche Journalist. Aber Hans-Günter Wallraff, Jahrgang 1942,  ist  weit mehr als das: Aktionskünstler, Marathon-Mann und ein Schalk mit Sinn für schwarzen Humor. Sonst hätte er schon seine Undercover-Einsätze in Industriebetrieben, mit denen er Mitte der 1960er Jahre auch international berühmt wurde, psychisch gar nicht durchhalten können. Es folgten spektakuläre Protestaktionen, wie in Griechenland, als er sich 1974 im Land der brutal regierenden Obristen an einen Lichtmast auf dem Syntagma-Platz ankettete, und drei Jahre später die Arbeit als Pseudo-Reporter „Hans Esser“ bei der BILD-Zeitung in Hannover, die dem Springer-Verlag einen bis heute nachwirkenden Image-Schaden eintrug.

 

Ein Militärarzt der Bundeswehr hatte den jungen Lyriker und Autor Wallraff (er hatte den Wehrdienst verweigert, war aber doch eingezogen worden) einst als „abnorme Persönlichkeit“ eingestuft, die „untauglich für Krieg und Frieden“ sei. Wallraff zitiert das heute noch gerne. Der Befund des Oberstabsarztes ist heute im Militärhistorischen Museum in Dresden ausgestellt - und so hat es Wallraff immer wieder geschafft, für ihn brenzlige Situationen in historische Triumphe zu verwandeln. Und immer wenn man denkt, nun sei es mit der öffentlichen Wirkung Wallraffs vorbei, taucht er unversehens wieder auf: zuletzt mit seinem „Team Wallraff“ bei RTL, mit dem er untragbare Zustände bei der Kette Burger King, in deutschen Privatkliniken oder bei Paket-Dienstleistern aufdeckte. Günther Wallraff wird am 1. Oktober 2017 fünfundsiebzig Jahre alt, was man dem Ausdauer-Sportler nicht ansieht. Aus diesem Anlass wollen wir sein einzigartiges Leben  in einer längeren Dokumentation Revue passieren lassen – kein artiges Geburtstags-Ständchen (das würde er auch gar nicht wollen), sondern ein dichtes Portrait über eine deutsche Risiko-Karriere mit allen Ups and Downs, mit selten gezeigtem Archivmaterial und Einblicken in die Privatsphäre des Meisters der Verwandlung.

 

Mit Kai Diekmann, Giovanni di Lorenzo, Sandra Maischberger, Nadja Wallraff, Ali Houzi u.a.

 

 

 

Pressestimmen


Der Gerechtigkeitsberserker

„Günter Wallraff – der Marathonmann, der Betriebsstörer, der Erfinder eines neuen Journalismus, der Auflagenmillionär. Günter Wallraff – der Umstrittene, der Verletzliche, der Unbeugsame, heute eine internationale Marke. Und man fragt sich: Wie und warum hält er das durch als Mann mit 75 Jahren? Und warum macht er immer weiter, obwohl er sich doch längst auf einer fernen Insel zur Ruhe setzen könnte?“

 

Mit diesem Steckbrief und mit diesen Fragen beginnt der Film von Lutz Hachmeister über Günter Wallraff. Das Erstaunlichste an diesem Film mit dem Titel „Wallraff war hier“ (Produktion: Gemini Film/HMR) ist vielleicht, dass der Privatsender RTL ihn sich leistet und dass der Autor des Films sich den Sender leistet, dass dieser Film – gleichsam eine stilistische Schmuggelware – in der knallbunten Herz-Schmerz-Welt von RTL auftaucht und dass der Intellektuelle, der „Egghead“, in den gefühlstrüben und flachwitzigen Programmfluss des Senders eintaucht. Ist das eine Win-Win-Situation? Kapert der Sender einen preisgekrönten Dokumentarfilmer und entert der Autor einen Sender, der eigentlich keine Autoren kennt? Diese Fragen könnten auch auf das Geburtstagskind zielen, auf Wallraff, der bei RTL seit einiger Zeit mit dem Investigativ-Format „Team Wallraff“ präsent ist, der gerade 75 Jahre alt wurde und deshalb von seinem Sender ein netto 60 Minuten langes Porträt geschenkt bekam (dessen Sendezeit sich brutto mit Werbeinseln auf insgesamt 75 Minuten erstreckte).

 

Die Analyse von Hachmeister ist auf jeden Fall quicklebendig und wohlwollend: Wallraff erscheint vom ersten Moment an wie eine gezeichnete, vom Leben hingekrakelte Figur, so biegsam, spindeldürr, ein federnder Turnschuhschritt, ein Alter mit Basecap, der nicht alt sein will, einer, der Mediengeschichte geschrieben hat und jetzt beinahe wie eine Comic-Figur durch die Bilder hetzt. Klar, man kann dieses reiche, übervolle Leben nicht in 60 Minuten packen, auch deshalb wird vieles in dem Film (der im Anschluss an eine „Team-Wallraff“-Folge lief) nur angetippt, manches gar nicht erwähnt, doch der Autor hat die Fülle des Materials im Griff. Er verzichtet dabei auf einen Strauß von O-Tongebern und lässt in erster Linie „Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo, der laut eigener Aussage Wallraff nach einer längeren Schaffenskrise wieder zum Recherchieren und Schreiben animiert hat, die Journalistin und Talkmoderatorin Sandra Maischberger, die sagt, Wallraff sei für sie ein journalistisches Vorbild, und den früheren „Bild“-Chef Kai Diekmann zu Wort kommen und zur Analyse beitragen.

 

Der Film endet poetisch. Wenn Wallraff, diesem Gerechtigkeitsberserker, mal wieder alles zu viel wird, wenn er mal wieder die Last der Welt auf den schmalen Schultern spürt, verkriecht er sich in eine bestimmte Höhle am Meer. Beim Dreh dort wirft der Scheinwerfer Wallraffs Schatten an die Höhlenwand, wie einen Comic aus der Steinzeit. Da steht er der gebeugte Mensch, hadernd und suchend, wütend und kapitulierend, jung und uralt. Trotz aller Zweifel: Ein Menschenfeind ist Wallraff, dieser Allzeit-Zornige, nie geworden. Und die Höhle hat er immer noch verlassen.

 

Torsten Körner, Medienkorrespondenz, 20.10.2017